Blog
360° Filmkonzeption
Seifenblasen statt Perlenkette

360°-Produktionen konzipieren
Noch immer ist es für Filmemacher eine Herausforderung, 360°-Filme zu konzipieren. Autoren, Produzenten und Regisseure sind darauf trainiert, die Realität in einen rechteckigen Bildausschnitt einzupassen und den Blick des Publikums durch den Wechsel von Totalen und Großeinstellungen oder durch Perspektivwechsel zu lenken. Die zweite Konditionierung ist das Denken auf einer linearen, durch die Sendeläge limitierte Zeitachse. Das Sequenzieren dieser Zeitachse in „Schnitte“ von etwa 4 Sekunden ist zum De-facto-Standard geworden.
Versuche, beide Regeln zu brechen, etwa durch extrem kurze Bildfolgen oder durch die Inszenierung eines ganzen Films als One-Shot-Szene, wie in Sebastian Schippers "Victoria", bleiben experimentelle Ausnahmen.
Ein typischer Handlungsstrang ähnelt einer Perlenkette. Schnitt für Schnitt fädeln sich ästhetisierte Realitätssegmente auf die Zeitachse. Die Dramaturgie folgt der Urform des Erzählens: dem Märchen. Es beginnt mit „es war einmal", baut mit „aber plötzlich" Spannung auf und endet mit „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage". Aber wie erzählt man Geschichten im 360°-Raum, wo sich der rote Faden des Zeitstrahls einfach in Luft auflöst? Wenn das Publikum selbst bestimmt, wie lange es sich eine Szene anschaut und in welche Richtung es dann „weitergeht“? Wenn also nicht mehr die Zeit, sondern der Raum die Wahrnehmung dominiert?
Neue Paradigmen für immersives Storytelling
Für einen Drehbuchautor ist das Paradigma des zeitbasierten Geschichtenerzählens so tief in seinem Kopf verankert, dass die Abkehr davon schwerfällt. Tatsächlich verändert sich der Prozess des "Erzählens" in einer 360°-Umgebung zu einem Modus des "Präsentierens" oder "Anbietens" einer raumbezogenen Szenerie, die durch Wände oder Horizonte begrenzt ist. Aber anders als uns die Hersteller von "immersiven" Geräten weismachen wollen, wird der Prozess des "Eintauchens" immer noch auf sehr subtile Weise unterbrochen: Man befindet sich in der Szene, ist aber nicht Teil von ihr. Die aus dem Theater bekannte „vierte Wand“ zwischen Publikumsraum und Bühne ist immer noch da: Sie umgibt den Zuschauer in einer sehr kleinen Blase. Deswegen ist es hilfreich, das Wort "Publikum" durch "Betrachter" zu ersetzen, denn bei vielen Hardware-Lösungen (VR-Brillen) steht der Betrachter quasi singulär in der Mitte der Raumbühne.
Die Art und Weise der Wahrnehmung, der Bildaufnahme, der Postproduktion und der Distributionstechnik unterscheiden sich bei 360°-Produktionen so sehr von den erlernten Regeln, dass ein neuer Ansatz für das Storyboarding und das Drehbuchschreiben erforderlich ist. Ich bezeichne sie als die Seifenblasenmethode.
Die Seifenblasenmethode
Bestimmendes Element für die Dramaturgie im 360°-Raum ist nicht mehr die Zeitachse, sondern es sind Raumblasen mit der 360°-Kamera als Kugelmittelpunkt. Die Größe dieser Räume wird durch sichtbare Wände oder durch den Horizont begrenzt. Bei "offenen" Szenen bestimmt die Kameraauflösung, ab welcher Entfernung Details noch wahrnehmbar sind. Beispielsweise kann man bei einem 4K-System Details, die weiter als 20m von der Kamera entfernt sind, vernachlässigen, weil sie nicht übertragen werden.

Die Seifenblasenmethode: Immersives Geschichtenerzählen
Türen statt Schnitte
Statt wie gewohnt Szenen in einzelne Einstellungen „aufzulösen“, stellen Sie sich den Betrachter in der Mitte einer Blase pro Szene vor und füllen Sie den Raum um ihn herum mit realer oder virtueller Ausstattung. In jeder Raumblase hält sich der Betrachter für eine unbestimmte Zeit auf. Die Aufenthaltsdauer ergibt Zeitsegmente. Diese können nun entweder frei durch den Betrachter gesteuert werden oder sie folgen (wenn man erzählerische Elemente einfügt) in Teilen wieder der klassischen Dramaturgie – aber nur so lange, bis der Raum verlassen wird.
Was im Film der Schnitt war, ist im Seifenblasendesign die „Tür“, also der räumliche Übergangsbereich zu benachbarten Blasen. Diese Verbindungen können physische Öffnungen wie Durchgänge, Fenster oder virtuelle Elemente (Pfeile, Triggerpunkte) sein. Je nach Hard- und Software kann der Übergangsbereich durch einen Klick, eine physische Bewegung oder eine andere vom System bereitgestellte Aktion betreten werden.
Ausstattung als sekundäre Informationsebene
In jeder Blase können Aufmerksamkeitspunkte (POIs – Points-of-Interest) platziert werden, also reale oder virtuelle Ausstattungselemente. Diese sekundäre Informationsebene kann Texte, Bilder oder Filme enthalten. Anders als bei linearen Programmen gibt es für den Nutzer keine zeitliche Begrenzung für die Betrachtung von Inhalten, die ihn interessieren. Seine aktive Auswahl und Verweildauer beeinflussen die Rezeption und Dramaturgie des gesamten Programms.
Fazit
Die Verwendung des Seifenblasenmodells hilft bei der Definition von Szenen und Übergängen im 360°-Raum. Es wird einfacher, die Aufenthaltsdauer des Betrachters in jeder Blase zu kontrollieren und Szenarien für seine Wege durch das vom Autor geschaffene Labyrinth zu definieren. Geht man von den Sinnesreizen und dem Informationsfluss in jeder Raumblase aus, gelingt es leichter, eine spannende Dramaturgie zu entwerfen, in der jeder Betrachter sein individuelles Tempo bestimmt.
Was ist Ihre Anforderung?
Close Up Film konzipiert und produziert gemeinsam mit ausgewählten Partnern hochwertige audiovisuelle Lösungen für Industrie und Wirtschaft. Wenn Sie mehr über 360°-Programme erfahren möchten, senden Sie bitte eine Mail an:
frank.sidenstein@closeupfilm.de
Ich freue mich auf Ihre Anfrage!
© Frank Sidenstein